Graue Fassaden, bröckelnder Putz, leere Fensterhöhlen
In verlassenen Straßenzügen trainiert die U. S. Army ihre Art von Häuserkampf – Kreuzberg liegt im amerikanischen Sektor der Viermächtestadt. Die Unsicherheit ist groß, was mit dem Quartier geschehen wird. Auch wenn die Autobahnpläne hier, im abgelegensten Winkel Westberlins, mangels Anschluss nicht weiterverfolgt werden, die Häuser werden trotzdem nicht instandgesetzt und verfallen.
Je mehr Einwohner wegziehen, desto mehr Geschäfte und Handwerksbetriebe schließen – ein Teufelskreis, zurück bleiben die Alten. Es gibt aber auch Neuzugezogene: Menschen, die sich höhere Mieten nicht leisten können, die bei Vermietern unbeliebt und bereit sind, sich mit der ungewissen Situation zu arrangieren: Migranten, vor allem Türken, und junge Leute – Studenten und Treber, Hippies und Rocker, Punks, Künstler und Alternative. Es bildet sich eine Subkultur, die den Zielvorstellungen des Ersten Stadterneuerungsprogramms, das hier gerade zur Entfaltung kommen soll, diametral gegenübersteht. Wie die aussehen, ist schon rund ums Kottbusser Tor zu besichtigen, wo nun das Neue Kreuzberger Zentrum steht. Die neuen Kreuzberger wollen sich aber nicht vertreiben lassen, statt teurer, anonymer Wohnsilos fordern sie die Sanierung der Altbauten und – Mitbestimmung. Absurd, finden Senatsvertreter, Stadtplaner und Spekulanten.
Doch dann werden 1977 auf Initiative der evangelischen Kirchengemeinden in SO 36 mit dem Senat und dem Bezirk die „Strategien für Kreuzberg“ ins Leben gerufen. Jede und jeder kann mit Vorschlägen zur Erneuerung des Stadtteils bei der Projektkommission vorstellig werden. Diese ist mit Vertretern von Senat und Bezirk, in ihrer Mehrheit aber mit Bewohnern besetzt. Aus den über hundert Vorschlägen, die gleichermaßen soziale, städtebauliche, kulturelle und politische Aspekte berühren, werden fünfzehn Projekte ausgewählt, deren Umsetzung der Senat finanziert. Die Bürgerinitiative SO 36, der gleichnamige Verein und der Stadtteilausschuss SO 36 bilden sich. In Letzterem wird in den kommenden zwölf Jahren von Bürgern und Behördenvertretern über Maßnahmen und die Verteilung der Mittel im Strategiengebiet beschlossen. Eines der entwickelten Konzepte ist die „Behutsame Stadterneuerung“, einer der Schwerpunkte der Internationalen Bauausstellung, die der Senat von Berlin 1978 beschließt und die 1984 stattfinden wird.
An Leerstand und akuter Wohnungsnot ändert das alles aber immer noch nichts. Rechtliche Mittel, wie das Anzeigen leer stehender Wohnungen beim Landeswohnungsamt oder Gesprächsversuche mit den Wohnungsbaugesellschaften und privaten Hauseigentümern, bleiben erfolglos, deshalb wird nun Selbsthilfe ergriffen: 1979 besetzen Mitglieder der BI SO 36 erstmals eine leer stehende Wohnung, setzen sie instand und bringen die senatseigene Wohnungsbaugesellschaft BeWoGe dazu, diese und weitere Wohnungen wieder zu vermieten. Bald darauf werden andere Gruppen die ersten Häuser besetzen – und gleich drinbleiben.
Die vermutlich erste Hausbesetzung der Bundesrepublik fand schon einige Jahre vorher statt: am 8. Dezember 1971. Das ehemalige Schwesternwohnheim im Bethanien am Mariannenplatz heißt seitdem Georg-von-Rauch-Haus und wird auch vierzig Jahre später noch selbstverwaltet sein. Benannt ist es nach dem „umherschweifenden Haschrebellen“, der am 4. Dezember 1971 von der Polizei erschossen worden war.
Karin Schneider für die Luisenstadt Homepage (
November 2012)
Weiterführender Link: Das Georg-von-Rauch-Haus