1960
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Das Erste Stadterneuerungsprogramm: „Kahlschlagsanierung“ und Autobahnring

Manteuffelstraße 40-41, 1981  

Der Wiederaufbau Westberlins ist in vollem Gange und über allem steht das Leitbild der autogerechten Stadt

Für den Autobahnring rund um die Stadtmitte ist ein Autobahnkreuz auf dem Oranienplatz geplant. In Richtung Treptow soll es bald geradewegs durch SO 36 gehen. Doch dann wird die Mauer gebaut und Kreuzberg gerät buchstäblich über Nacht aus dem Zentrum Berlins ins Abseits. Einkaufsstraßen wie die Köpenicker oder die Schlesische werden zu Sackgassen, die Kunden aus dem Ostteil der Stadt bleiben aus und Geschäfte müssen nach und nach schließen.

Dass die Teilung Berlins bald aufgehoben werden könnte, glaubt nun, mitten im Kalten Krieg, niemand mehr. Am Autobahnbau hält der Senat laut Flächennutzungsplan von l969 trotzdem fest. Die Folge: in die Häuser, die dem Vorhaben weichen sollen, darunter der Block 103 zwischen Oranien-, Mariannen-, Naunyn- und Manteuffelstraße, wird nicht mehr investiert. Sie sind dem Verfall preisgegeben, die Mieter ziehen weg, erste Straßenzüge werden abgerissen. Das Ende von SO 36, wie der südöstliche Teil Kreuzbergs nach dem einstigen Postzustellbezirk noch heute genannt wird, scheint besiegelt.

Dabei waren die Quartiere zwischen Kottbusser und Schlesischem Tor wie viele andere Gründerzeitviertel der Stadt nicht nur endlose Schluchten von Mietskasernen, sondern auch eine stadtplanerische Innovation. In den Boomzeiten von Berlins Industrialisierung galt es zwar, möglichst schnell und gewinnbringend möglichst viel Wohnraum für die Massen der Neuzuziehenden zu errichten, doch trotz der dichten Bebauung, die weder Licht noch Luft in Hinterhöfe ließ, die nur so groß sein mussten, dass eine Feuerwehrspritze darin wenden konnte, lässt sich der damalige Baustadtrat James Hobrecht als vielleicht erster Gentrifizierungsgegner betrachten. Er entwickelte die bewährte Berliner Mischung: die Durchdringung der Milieus und die Verbindung von Wohnen und Arbeiten auf einem Grundstück. Großzügige Vorderhäuser mit Beletage und günstigeren Wohnungen je höher das Stockwerk, Hinterhäuser für Arbeiterfamilien, Kellerbehausungen für die Ärmsten und womöglich noch ein Fabrikgebäude im Hof waren idealerweise in einem Gebäudekomplex vereint.

Wer könne „seine Augen vor der Tatsache verschließen, daß die ärmere Klasse vieler Wohltaten verlustig geht, die ein Durcheinanderwohnen gewährt“, erklärte er sein Modell, das mit Blick auf heutige Debatten über Bildungs- und Integrationspolitik visionär erscheint: „In der Mietskaserne gehen die Kinder aus den Kellerwohnungen in die Freischule über denselben Hausflur wie diejenigen des Rats oder Kaufmanns, auf dem Wege nach dem Gymnasium.“* Doch damit soll nun, weniger als hundert Jahre später, Schluss sein und Kahlschlagsanierung Platz für großflächige, homogene Betonsiedlungen schaffen.

* Zitiert nach: Der Tagesspiegel, 20. August 2011
Karin Schneider für die Luisenstadt Homepage
 (November 2012)

1970
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SO 36 in den 1970er-Jahren

Amerikanischer Soldat bei Übungseinsatz in der Skalitzer Straße in Kreuzberg (1980), Foto: P. Glaser  

Graue Fassaden, bröckelnder Putz, leere Fensterhöhlen

In verlassenen Straßenzügen trainiert die U. S. Army ihre Art von Häuserkampf – Kreuzberg liegt im amerikanischen Sektor der Viermächtestadt. Die Unsicherheit ist groß, was mit dem Quartier geschehen wird. Auch wenn die Autobahnpläne hier, im abgelegensten Winkel Westberlins, mangels Anschluss nicht weiterverfolgt werden, die Häuser werden trotzdem nicht instandgesetzt und verfallen.

Je mehr Einwohner wegziehen, desto mehr Geschäfte und Handwerksbetriebe schließen – ein Teufelskreis, zurück bleiben die Alten. Es gibt aber auch Neuzugezogene: Menschen, die sich höhere Mieten nicht leisten können, die bei Vermietern unbeliebt und bereit sind, sich mit der ungewissen Situation zu arrangieren: Migranten, vor allem Türken, und junge Leute – Studenten und Treber, Hippies und Rocker, Punks, Künstler und Alternative. Es bildet sich eine Subkultur, die den Zielvorstellungen des Ersten Stadterneuerungsprogramms, das hier gerade zur Entfaltung kommen soll, diametral gegenübersteht. Wie die aussehen, ist schon rund ums Kottbusser Tor zu besichtigen, wo nun das Neue Kreuzberger Zentrum steht. Die neuen Kreuzberger wollen sich aber nicht vertreiben lassen, statt teurer, anonymer Wohnsilos fordern sie die Sanierung der Altbauten und – Mitbestimmung. Absurd, finden Senatsvertreter, Stadtplaner und Spekulanten.

Doch dann werden 1977 auf Initiative der evangelischen Kirchengemeinden in SO 36 mit dem Senat und dem Bezirk die „Strategien für Kreuzberg“ ins Leben gerufen. Jede und jeder kann mit Vorschlägen zur Erneuerung des Stadtteils bei der Projektkommission vorstellig werden. Diese ist mit Vertretern von Senat und Bezirk, in ihrer Mehrheit aber mit Bewohnern besetzt. Aus den über hundert Vorschlägen, die gleichermaßen soziale, städtebauliche, kulturelle und politische Aspekte berühren, werden fünfzehn Projekte ausgewählt, deren Umsetzung der Senat finanziert. Die Bürgerinitiative SO 36, der gleichnamige Verein und der Stadtteilausschuss SO 36 bilden sich. In Letzterem wird in den kommenden zwölf Jahren von Bürgern und Behördenvertretern über Maßnahmen und die Verteilung der Mittel im Strategiengebiet beschlossen. Eines der entwickelten Konzepte ist die „Behutsame Stadterneuerung“, einer der Schwerpunkte der Internationalen Bauausstellung, die der Senat von Berlin 1978 beschließt und die 1984 stattfinden wird.

An Leerstand und akuter Wohnungsnot ändert das alles aber immer noch nichts. Rechtliche Mittel, wie das Anzeigen leer stehender Wohnungen beim Landeswohnungsamt oder Gesprächsversuche mit den Wohnungsbaugesellschaften und privaten Hauseigentümern, bleiben erfolglos, deshalb wird nun Selbsthilfe ergriffen: 1979 besetzen Mitglieder der BI SO 36 erstmals eine leer stehende Wohnung, setzen sie instand und bringen die senatseigene Wohnungsbaugesellschaft BeWoGe dazu, diese und weitere Wohnungen wieder zu vermieten. Bald darauf werden andere Gruppen die ersten Häuser besetzen – und gleich drinbleiben.

Die vermutlich erste Hausbesetzung der Bundesrepublik fand schon einige Jahre vorher statt: am 8. Dezember 1971. Das ehemalige Schwesternwohnheim im Bethanien am Mariannenplatz heißt seitdem Georg-von-Rauch-Haus und wird auch vierzig Jahre später noch selbstverwaltet sein. Benannt ist es nach dem „umherschweifenden Haschrebellen“, der am 4. Dezember 1971 von der Polizei erschossen worden war.

Karin Schneider für die Luisenstadt Homepage (
November 2012)
Weiterführender Link: Das Georg-von-Rauch-Haus

1980
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„10 Jahre Instandsetzungsforderung“ und nichts passiert

Das Gebiet rund ums Kottbusser Tor ist nunmehr seit bald zwanzig Jahren Sanierungsgebiet, der Bedarf an bezahlbarem Wohnraum noch immer so groß wie die Geduld gering, vergeblich weiterzuverhandeln

Die erfolgreichen Besetzungsaktionen im Vorjahr machen Mut: lm Januar werden mit der Naunynstraße 77 und 79, im März mit der Mariannenstraße 48 die ersten Häuser im Block 103 besetzt. Genauer: instandbesetzt. Denn neben dem politischen Akt, sich das existenzielle Gut Wohnraum anzueignen, gilt es ebenso zu demonstrieren, dass diese dem Abriss preisgegebenen Häuser durchaus noch bewohnbar sind. Jetzt heißt es: „Lieber instandbesetzen als kaputtbesitzen“.

 
Instandsetzung Manteuffelstraße 40/41, 1982  

Sympathie und Solidarität im Stadtteil sind groß, alle sind unzufrieden mit der Baupolitik von Senat und Bezirk, klagen über Filz, Korruption und Spekulation. Auch der große Einsatz, mit dem in den Häusern nun Strom- und Wasserleitungen verlegt, Fenster eingesetzt, Dächer und Öfen repariert und sanitäre Anlagen erneuert werden, verschafft den Besetzern viele Sympathisanten für ihre Wohnungsbaupolitik von unten.

Auf diese können sie auch zählen, als es am 12. Dezember zur sogenannten Schlacht am Fraenkelufer kommt. Als die Polizei die Besetzung des Fraenkelufers 48 verhindert, verbreiten sich Gerüchte, dass am selben Abend noch Häuser geräumt werden sollen. Ein massives Aufgebot der Polizei trifft auf Barrikaden, die die besetzte Admiralstraße 20 schützen sollen. Mit Schlagstöcken und Tränengas werden die Demonstranten zum Kottbusser Tor getrieben, wo Scheiben zu Bruch gehen und ein unvorsichtig zurückgelassener Streifenwagen umgekippt wird – Bilanz der Nacht sind ein Schwerverletzter, der von einem Streifenwagen angefahren wurde, über 200 weitere Verletzte und 66 Verhaftete, von denen einige zunächst zu mehrmonatigen Haftstrafen verurteilt werden, die bis auf eine in der Berufung abgewendet werden.

Dieser 12. Dezember ist eine Zäsur, denn die Polizeigewalt, der sich Hausbesetzer, Unterstützer und Sympathisanten erstmals gegenübersehen, wird als unverhältnismäßig wahrgenommen, die Fronten verhärten sich. Auch in den nächsten Tagen kommt es zu Demos und Auseinandersetzungen, allein am 20. Dezember demonstrieren 15 000 Menschen vor dem Untersuchungsgefängnis in Moabit für die Freilassung der Gefangenen.

Karin Schneider für die Luisenstadt Homepage (
November 2012)

 
 
 
1981
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Ton, Steine, Farben

Bis Mitte März 1981 sind die meisten leer stehenden Häuser im Block 103 besetzt oder teilbesetzt: neben der Mariannenstraße 48 in der Manteuffelstraße die Nummern 40, 41 und 42, in der Oranienstraße die 3 und die 13 sowie die Naunynstraße 77 und 79.

In der Manteuffelstraße 40/41 wird der Bauhof gegründet: eine Sammel- und Vergabestelle für Baumaterialien, wo bald viele Sach- und Geldspenden von Privatpersonen und Handwerksbetrieben eingehen. Auch Werkzeug können sich Besetzer hier leihen. Am hohen Spendenaufkommen lässt sich der Grad von Sympathie und Unterstützung der Hausbesetzer in ihrer Umgebung ablesen: Endlich ist hier wieder Leben. Und wie oft hatte es in den leer stehenden Häusern gebrannt – „heißer Abriss“ heißt das. Damit ist es nun vorbei und auch der Vandalismus nimmt ab, die Altkreuzberger fühlen sich wieder sicherer, auch was ihre eigene Zukunft im Stadtteil betrifft. Bald wird ein Blockverbund gegründet, in dem die Bewohner sich über Fragen der Planung und Erneuerung der Häuser genauso austauschen wie über den Widerstand gegen Entmietung und Abriss oder Modernisierung.

Im Sommer 1981 werden in ganz Berlin 165 Häuser besetzt sein, 86 davon in Kreuzberg, Neubesetzungen werden nun, nach Antritt des neu gewählten CDU-Senats, nicht mehr geduldet. Innerhalb weniger Monate sind die Hausbesetzer Mittelpunkt und treibende Kraft der links-alternativen Szene Westberlins geworden – man muss „einfach in einem besetzten Haus wohnen, zumindest jemanden kennen, der dort häusigt“. An den Moment der Besetzung, diese „ganz einmalige Situation“, wird sich ein Besetzer viele Jahre später erinnern: „… es gab also diesen Moment, viele hatten schon bei anderen Besetzungen mitgewirkt, man stand vor diesem riesen Komplex, alles leer, Fenster rausgehauen, Dächer abgedeckt, 30 Leutchen wie die Berserker eine Fabriketage am verglasen, Strom legen, Klos am einbauen … Ein riesen Abenteuerspielplatz, Wände entfernen, einen riesen Raum lagermäßig beschlafen … tagsüber durch die Gegend streifen, Abrisshäuser nach Verwertbarem untersuchen, Demos, Besetzerrat, dann abends am Lagerfeuer Heldentaten erzählen, halt Jäger und Sammler …“

Sammel- und Vergabestelle für Baumaterialien, Bauhof 1981  
Sammel- und Vergabestelle für Baumaterialien, Bauhof 1981  
Schlaflager, Bauhof 1981  
Wände entfernen im Bauhof, 1981  

Die Parole „Die Häuser denen, die darin wohnen“ beinhaltet auch die Freiheit, mit Formen des Zusammenlebens experimentieren zu können: ,,Wir besetzen nicht nur Häuser. Wir leben in Kommunen oder mehr zusammen als in üblichen Mietshäusern“, heißt es in einem Papier des Kreuzberger Besetzerrats. „Wir wollen den Zusammenhang des Lebens erleben und zwar hier und heute. Wir kämpfen gegen Abriss und dazugehörigen Abrissfirmen. Wir wehren uns in Schule und Betrieb, gegen Konsumterror und jegliche Form von Unterdrückung.“*

Schnell werden erste Modelle entwickelt, wie die Sanierung der besetzten Häuser ohne die üblichen Träger und unter Mitbestimmung der Bewohner realisiert werden könnte. Damit wird die von Beginn an heiß diskutierte Frage, verhandeln, nicht verhandeln oder wie verhandeln, immer dringlicher. Die Mehrheit der Besetzer will eine Spaltung der Bewegung verhindern und strebt eine Gesamtlösung an, das heißt Verträge für alle Häuser.
Erschwert werden Verhandlungen auch, weil zuvor die Gefangenen vom 12. Dezember 1980 freigelassen werden sollen. Dessen ungeachtet wird aber bald klar, dass sich die Forderung nach einem Trägermodell für alle Häuser nicht durchsetzen lässt. Während die einen daraufhin weitere Verhandlungen einstellen, streben andere individuelle Verträge oder Lösungen für mehrere Häuser an – wie im Block 103 –, wieder andere bleiben bei ihrer „Null Bock“-Haltung oder verweigern sich sowieso „dem System“ – die Reaktionen sind so vielfältig wie es eine Bewegung erwarten lässt, in der sich inzwischen mehrere Tausend Menschen der unterschiedlichsten politischen und kulturellen Strömungen versammeln.

lm Frühjahr 1981 wird das Konzept für den Block 103, das der Mieterladen Dresdner Straße bereits 1979 erstellt hatte, wieder aufgegriffen und unter Beteiligung der Bewohner und der Arbeitsgruppe Altbau der Internationalen Bauausstellung (IBA) zum ersten Blockentwicklungsplan ausgearbeitet. Dem stimmt das Bezirksamt zu, der private Sanierungsträger SAMOG zieht sich zurück. Im September wird der Bauplan für das Sanierungsgebiet Kottbusser Tor auf einer Klausurtagung der Berliner CDU zur Stadterneuerung beschlossen.

Der parteilose Werner Orlowsky, zwanzig Jahre Drogist in der Dresdner Straße, Mitbegründer einer BI der dort ansässigen Gewerbetreibenden zum Erhalt der Blockstruktur und engagiert im Mieterladen daselbst, wird für die Alternative Liste Kreuzberger Baustadtrat und bis 1989 im Amt bleiben.
Im Sommer übernehmen Organisationen, Institutionen und Prominente die ersten Patenschaften für einzelne Häuser. Sie stellen Öffentlichkeit her, indem sie über das Leben im besetzten Haus berichten, sie versuchen durch ihre Anwesenheit Räumungen zu verhindern und zwischen den Besetzern und staatlichen Vertretern zu vermitteln.

* Alle Zitate aus Susanne Bücher, Vom Hausbesetzer zum Hausbesitzer. Eine Fallstudie zum Wandel alternativer Lebensräume am Beispiel der Luisenstadt Genossenschaft Berlin-Kreuzberg, Hausarbeit im Rahmen der Ersten Staatsprüfung für das Lehramt an Gymnasien, Greifswald 2005
Karin Schneider für die Luisenstadt Homepage (November 2012)
Weiterführender Link:
 Häuserkampf (Soziale Bewegung) Academic dictionaries and encyclopedias

Innenhof der Manteuffelstraße 40-41, 1981  
Manteuffelstraße 1981  
1982 – 1985
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Autonomie und Selbstverwaltung

Pressekonferenz von STATTBAU nach notarieller Eigentumsübertragung der Grundstücke am 11. Oktober 1983, Foto: P. Beck  

Zwölf Grundsätze zur behutsamen Stadterneuerung werden verabschiedet

Aus der Arbeit an den Blockplänen und der ausführlichen Befragung der Bewohner sowie in Zusammenarbeit mit ihnen entwickelt die Altbau-Arbeitsgruppe der Internationalen Bauausstellung (IBA) die „12 Grundsätze zur behutsamen Stadterneuerung“ – kurz die „12 Grundsätze“ genannt. Nach vielen Debatten werden sie durch den Bausenator Ulrich Rastemborski (CDU) im April 1982 anerkannt und als neue Leitlinie der Stadterneuerung durch das Berliner Abgeordnetenhaus am 18. März 1983 verabschiedet. Damit ist das Ende der Kahlschlagsanierung – Abriss und Neubau – besiegelt.

Autonomie und Selbstverwaltung, zentrale Forderungen der Besetzer, rücken mit dem neuen Sanierungsmodell der behutsamen Stadterneuerung im Block 103, dem Karree zwischen Oranien-, Mariannen-, Naunyn- und Manteuffelstraße, nun in greifbare Nähe. Auch rechtliche Hürden sind aus dem Weg geräumt: Der Grundsatz 11 verlangt nach neuen Trägerformen. Im Februar 1982 war deshalb schon der bewohnermitbestimmte Sanierungsträger STATTBAU gegründet worden.

Am 5. September 1983 ist es schließlich so weit: Mit Abschluss des Sanierungsvertrags übernimmt STATTBAU als treuhänderischer Sanierungsträger nach zähen Verhandlungen die zwölf SAMOG-Grundstücke im Block 103 und das ebenfalls besetzte SAMOG-Haus Oranienstr. 198 im Block 104. Hinzukommen werden 1988 die Naunynstr. 82, 1991 die Oranienstr. 12 und 1992 Mariannenstr. 47 und 49. Neben der stadtteilbezogenen Erneuerung von Altbauten in enger Abstimmung mit den Bewohnern ist das erklärte Ziel von STATTBAU die Entwicklung von Konzepten für die Übertragung der Grundstücke in gemeinschaftliches Eigentum derjenigen, die in ihnen leben.

Die Übernahme ihrer Häuser durch STATTBAU ist gleichwohl nur eine Notlösung für viele Besetzer, die aufgrund fortwährender Räumungen unter Handlungsdruck stehen und in diesem Modell die einzige Möglichkeit sehen, ihre Häuser zu retten. Der Sanierungsträger gilt vielen zuerst als Befriedungsinstrument des Senats, und auch die enge Zusammenarbeit mit der Arbeitsgruppe Altbau der IBA wird oft – besonders von der radikaleren Szene – kritisiert. Dementsprechend gering ist bei vielen das Interesse, Sitzungen zu besuchen.

Oranienstraße Ecke Manteuffelstraße 1983  
Manteuffelstraße 1983  
Polizeiaktion 1983  

Als die 13 besetzten Häuser 1982 in die Verwaltung von STATTBAU übergeben werden, gründet jede Hausgemeinschaft einen Hausverein, der ihrer Vertretung nach außen den formalen Rahmen gibt. Zudem entsendet jedes Haus zwei Vertreter in den Aufsichtsrat. Damit halten die Besetzer 50 % der Mandate dieses Gremiums, 25 % die Gesellschafter von Leben im Stadtteil e. V. (L.I.S.T. e. V.) und 25 % der Mieterverein, die Mitarbeiter sowie die Kirchengemeinden. Auf regelmäßig stattfindenden Aufsichtsratssitzungen und dreiwöchentlichen informellen Treffen haben die Bewohner die Möglichkeit, ihre Interessen zu vertreten.

Zwei andere alternative Sanierungsträger werden scheitern: Netzbau, im Mai 1982 mit dem Ziel gegründet, die besetzten Häuser für das Land Berlin aufzukaufen und mit Erbbauverträgen an die Besetzer zu übergeben, löst sich ein halbes Jahr später wieder auf, weil der Senat als Verhandlungspartner nicht mehr akzeptiert wird. In der Schöneberger Maaßenstraße waren während laufender Verhandlungen Häuser geräumt worden. S.H.I.K.  (Selbstverwaltete Häuser in Kreuzberg), im Juni 1982 von verschiedenen Initiativen, Kirchengemeinden und Besetzern gegründet, wird nach einjährigem Bemühen vom Verband der Berliner Wohnungsbaugenossenschaften die Anerkennung als Genossenschaft verweigert.

Nach den Wahlen 1985 proklamiert der Bezirk Kreuzberg die Erweiterung der behutsamen, bewohnerorientierten und sozialverträglichen Stadterneuerung unter Berücksichtigung von stadtökologischen Erfordernissen. Als Pilotprojekt entwickeln im Block 103 Bezirk, IBA und Anwohner die „ökologischen Bausteine“, die 1986/87 im bundesweiten Wettbewerb „Bürger, es geht um Deine Gemeinde, die Innenentwicklung unserer Städte“ ausgezeichnet und im ökologischen Stadtumbau beispielgebend werden.

Karin Schneider für die Luisenstadt Homepage
 (November 2012)

1986 – 1989
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Am 25. April 1986 wird die Luisenstadt eG gegründet

Gründungsversammlung der Luisenstadt Genossenschaft in der Mariannenstraße 48 am 25. April 1986  

Gründungsmitglieder sind die ehemals besetzten Häuser Oranienstr. 13, die Manteuffelstr. 40/41, 42 und 97, die Naunynstr. 77 sowie das Mietshaus Oranienstr. 5

Weil STATTBAU nur Sanierungsträger ist, muss für die Zukunft eine Rechtsform geschaffen werden, in welche die Häuser überführt werden können. In gemeinschaftlicher Initiative, an der auch S.T.E.R.N., die Nachfolgegesellschaft der Altbau-IBA, beteiligt ist, wird die Luisenstadt eG gegründet.
Die Genossenschaft soll nach Abschluss der Sanierungsarbeiten durch STATTBAU die zwölf Grundstücke mit rund 250 Bewohnern und etwa 25 Gewerbeeinheiten in Dauererbpacht verwalten und ist daher von Anbeginn an den Entscheidungen von STATTBAU beteiligt.

„Um zu verhindern, dass die Häuser … erneut zu Spekulationsobjekten (mit entsprechenden Mieten) werden, haben die Bewohner von bisher sieben Häusern der Blöcke 101/103 eine selbstverwaltete Rechtsform gegründet“, heißt es in der Presseerklärung der Luisenstadt am 3. September l986.
Ihre Ziele sind:
1. Übernahme der Häuser in Erbpacht vom Land Berlin
(Die Häuser verbleiben in kommunalem Eigentum, die Bewohner haben das Verfügungsrecht; das Eigentum wird ‚neutralisiert‘.)

2. Selbstverwaltung und Selbstbestimmung
(Kostenersparnis durch Selbsthilfe bei Verwaltung und Instandhaltung.)

3. Sicherung von sozial verträglichen Mieten
(Keine Mieterhöhung bei gleichbleibendem Pachtzins und damit weitgehende Unabhängigkeit von öffentlichen Zuschüssen wie z. B. Wohngeld.)

4. Realisierung und Betreuung ökologischer Projekte zur Verbesserung des Wohnumfeldes
(Blockheizkraftwerk, Sonnenkollektoren, Brauchwasserrückgewinnung, Begrünung von Dächern und Fassaden etc.)

Anfang 1987 wird vom Bundesministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau sowie dem Land Berlin die Förderung der „ökologischen Bausteine“ zugesagt. Für das Experiment mit Wärmekraftkopplung, Solarzellen, Grauwasseranlage und Vertikalsumpf werden 4,5 Mio. DM bereitgestellt. Die Bauarbeiten beginnen, nach Fertigstellung soll die Luisenstadt eG Betreiberin sein.
1988 wird der neue Flächennutzungsplan verabschiedet – ohne Autobahn durch SO 36.

Weiterführende Links:
 
S.T.E.R.N.

1990
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Die Luisenstadt eG wird Hausbesitzerin

Manteuffelstraße 40/41 1991  

Die Mauer ist gefallen – Kreuzberg liegt wieder im Zentrum Berlins

Die Grundstückswerte steigen und mit ihnen der Erbbauzins, das heißt die Höhe der Pacht für jene elf Grundstücke, für die am 16. Dezember 1991 Erbpachtverträge abgeschlossen werden. Weil diese mit 4,5 % Jahreszins auf den Verkehrswert, einer fünfjährigen Anpassung und für eine Laufzeit von 66 Jahren abgeschlossen werden, entschließt sich die Luisenstadt eG, die Häuser nach und nach zu kaufen.

Und weil das Modell Genossenschaft Schule machen soll, werden in den darauffolgenden Jahren noch weitere Häuser im Block 103 und drum herum in die Genossenschaft aufgenommen. Viele der neuen Genossen aus diesen Einzelmieterhäusern haben einen Migrationshintergrund. Im Osten Berlins – vor allem in Mitte, Prenzlauer Berg und Friedrichshain – macht sich gleich nach dem Fall der Mauer eine neue Hausbesetzerbewegung bemerkbar, die Inbesitznahme einzelner Wohnungen wurde allerdings zu DDR-Zeiten schon viel praktiziert. Die Rigaer Str. 77 in Friedrichshain wird 1990 besetzt, 1997 kauft die Luisenstadt eG das Haus.

Das Land Berlin wird 1994 für die Behutsame Stadterneuerung in Kreuzberg mit dem European Urban and Regional Award ausgezeichnet.

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2000 bis heute

So sieht eigentlich ein Happy End aus: Nach vielen Kämpfen und langem Bangen siegt das Gute, Häuser und Kreuzberg sind gerettet. Abspann. Aber der Kapitalismus kennt keine Atempause: Nicht nur die Menschen dürfen nicht ruhen, auch das Geld muss immerzu arbeiten. Nach Dotcom-Blase und Finanzmarktkrise entdeckte das internationale Kapital Berlin: die exorbitant wachsende neue deutsche Hauptstadt, deren Senat ihr sicherstes Vermögen verschleuderte – Hunderttausende Mietwohnungen. Und wo lässt sich Kapital krisenfest und am gewinnbringendsten anlegen? Bei allem, auf das der Mensch nicht verzichten kann, Wohnen zum Beispiel. Die Folgen sind bekannt: steigende Mieten, eine bis dahin nicht gekannte Wohnungsnot für Menschen mit niedrigen und mittleren Einkommen.

Umso wichtiger wird wieder das Modell der Genossenschaft, das sich nun schon seit mehr als hundert Jahren bewährt. Genossenschaften versorgen ihre Mitglieder mit sicherem Wohnraum. Die Luisenstadt eG hat inzwischen 21 Häuser dem Markt und der Spekulation entziehen können. Zehn Häuser werden von Hausvereinen selbst verwaltet, in den anderen zwölf Häusern werden die Wohnungen einzeln vermietet.

Seit die Wohnungsnot so groß ist, besteht für die Luisenstadt eG eine besondere soziale Verantwortung, ihren günstigen Wohnraum denen zur Verfügung zu stellen, die auf dem sogenannten freien Markt die geringsten Chancen haben. Für jede Vermietung wird ein Vermietungsbeirat eingesetzt, der die Bewerbungen sichtet, priorisiert und der Hausversammlung vorstellt.

Ein besonderer Erfolg und ein ermutigendes Beispiel war der Kauf des Hauses Ohlauer Straße 36 im Jahr 2022. Der gelang, weil der ehemalige Eigentümer nicht den spekulativ angetriebenen Marktpreis verlangte, sondern glücklich war mit einem Betrag, der auch weiterhin sozial verträgliche Mieten erlaubt. Ihm war es wichtiger, dass das Haus in gute Hände gelangte und im Besitz der Luisenstadt eG dem Markt entzogen wurde. Seine ungewöhnliche Bereitschaft, auf den leistungslosen Gewinn der Immobilienspekulation zu verzichten, hat mediale Aufmerksamkeit eingebracht.